Gemüse steht auf dem Stundenplan. Möhren, Brokkoli, Porree, Frühlingszwiebeln. In einem Raum am Ende des Ganges im Vereinsheim von Viktoria Heiden sitzen drei Schüler, die so gar nicht dem Bild eines solchen entsprechen. Bernadette Rottbeck hat die Begriffe auf die Tafel geschrieben, spricht vor, das Trio spricht nach, überwindet dabei enorme verbale Klippen. „Möööaaarääään“, wiederholt Barry Hassimiou. Und sagt anschließend lächelnd: „Karotten – das ist doch einfacher.“
In Deutschland, im Westmünsterland, im Kreis Borken haben eben er und seine Vereinskollegen etwas von ihrem Lächeln und ein Stück weit die Hoffnung auf eine bessere Zukunft wiedergefunden. Alle drei sind aus ihrer Heimat geflohen. Hassimiou ist 20 Jahre. Er kam vor zwei Jahren aus Guinea – über den Senegal und Spanien. Sein Vater und seine Mutter sind tot. In dem westafrikanischen Staat sah er keine Perspektive mehr. Der 17-jährige Betim Delolli flüchtetet mit seinen Eltern aus dem Kosovo. Er trat auf eine Landmine, verlor dabei einen Unterarm. Ihezuo Chukuwemeka Clifford ist Nigerianer. Erst Anfang des Jahres kam der 24-Jährige nach Deutschland. Alleine. Ohne Familie. Seine Eltern kamen bei einer Bombenexplosion während des Gebets in einer Kirche ums Leben.
Drei junge Menschen, die bereits in ihrem ersten Viertel ihres Lebens Unfassbares erleben mussten. Aber auch drei, die kein Mitleid haben wollen, sondern nur eine menschenwürdigere Zukunft. Und Halt finden möchten – für ein neues Mosaik ihres Lebens.
Zumindest ein kleines Steinchen für dieses Mosaik vermag Viktoria Heiden beizusteuern. Hier führen die Fäden des Lebens der drei zusammen. An diesem weißen Tisch im Viktoria-Vereinsheim sitzen sie. Vor ihnen liegen Lauch, Blumenkohl, Zwiebeln.
„Vor allem Clifford hat seit seiner Ankunft hier in Deutschland sehr abgenommen. Sie essen zu wenig. Sie brauchen mehr Gemüse“, sagt Rottbeck. „Aber dafür müssen sie unsere Gemüsearten und die entsprechenden Vokabeln kennenlernen und ein Gefühl für die Ernährung hierzulande bekommen“, ergänzt Rottbeck. Sie ist eigentlich Dozentin für Gesundheits- und Krankenpflege. Nun aber blüht sie auch in einer ganz anderen Aufgabe auf.
Angefangen hatte alles im Sommer. Fußball gehörte zu den großen Hobbys der drei Flüchtlinge in ihren Heimatländern. Und auf der Suche nach einem Klub im Westmünsterland wurden sie in Heiden fündig. Teils tauchten sie plötzlich am Spielfeldrand auf, wurden von Vereinsmitgliedern angesprochen. Teils bekamen sie Tipps von klubfremden Personen. Wie zum Beispiel Clifford. Der hatte von einem Angestellten bei der Bank den Tipp „Viktoria“ bekommen. In Nigeria hatte er in der vierten Liga gekickt. Nun hofft er bei der Viktoria seiner Leidenschaft erfolgreich nachgehen zu können. Er kickt wie Hassimiou in der Zweiten, Delolli bei den A-Junioren. Ohne Deutsch-Kenntnisse aber ist es gleichwohl schwer, in einem Team zu bestehen, mit ihm eine Einheit zu werden.
Also hatte Heidens Sportlicher Leiter Christoph Engel eine Idee. Er wollte ihnen zumindest grundlegende Begriffe auf dem Platz näher bringen. In Rottbeck, die in der Badminton-Abteilung aktiv ist, sich aber auch für Fußball sehr begeistern kann, fand er eine begeisterte Mitstreiterin.
Und die brachte nicht nur ihr pädagogisches Talent ein. „Ich wusste nicht, was auf mich zukommt“, gesteht Rottbeck, die mittlerweile längst mehr als eine (ehrenamtliche) Deutschlehrerin für die Flüchtlinge im Klub geworden ist. „Schieß! Kreuzen! Hintermann!“ – diese Anweisungen auf dem Platz gehörten zu den ersten Begriffen, die sie ihren Schülern beibrachte. Daraus wurde mehr. Viel mehr. Nämlich ein Stück Lebenshilfe in einem so völlig anderem Land.
So kam Clifford zum ersten Training zu Fuß aus Reken. „Er wusste nicht, wie man hier Bus fährt“, erklärt Rottbeck für Einheimische etwas Selbstverständliches. Aber selbstverständlich ist für die drei hier eben noch allzu wenig. Auch deswegen übernahm die Viktoria die Kosten für die Bus-Tickets des Trios.
Jeden Donnerstag um 18 Uhr, vor dem Training, ist Unterricht. Der allerdings wird manchmal zur Nebensache. Dann nämlich, wenn private Probleme die jungen Kicker belasten. „Sie haben vor allem Angst“, so Rottbeck. „Angst von der ungewissen Zukunft, Angst, dass sie nicht bleiben dürfen.“
Aber auch wenn es um ganz praktische Dinge geht, ist sie und der Verein zur Stelle, trommelt Alarm, bittet um Hilfe, startet Aufrufe. Wie im November, als dringend Winterjacken für die Flüchtlinge im Klub gesucht wurden. „Die Resonanz war enorm“, freut sich die Familienmutter. „Da wächst etwas zusammen. In diesem Verein geht kein Mitglied verloren. Stärkere helfen den schwächeren. Das ist eine wunderbare Erfahrung.“
Linierte Hefte, wie sie Erstklässler haben, hatte sie beim ersten Treffen im Sommer mitgebracht. Sie hat sie nicht in Umlauf gebracht. „Ich hatte ja keine Ahnung, mit wem ich es zu tun habe und war überrascht vom Bildungsgrad und von der enormen Lernwilligkeit der drei“, sagt sie heute.
Längst sind persönliche Beziehungen entstanden – geprägt von gegenseitiger Wertschätzung. „Ich kannte das Thema Flüchtlinge vorher nur aus der Presse. Aber diese Erfahrungen und Gespräche sind auch für mich prägend“, sagt sie.
„Fußball ist mein Leben“, sagt Clifford, während der Kosovar Delolli schon längst herausgeeilt war, pünktlich beim Training erscheinen wollte. Und Hassimiou meint: „Als ich nach Deutschland kam, kannte ich niemanden. Die Viktoria hat dazu beigetragen, dass das nun anders ist.“ Rottbeck bestätigt: „Die Jungs haben sich sehr gut integriert.“ Sie meint: „Sport im allgemeinen und der Fußball im speziellen ist eine gute Integrationshilfe. Darüber können Menschen wie diese zurück ins Leben finden.“
Träume haben sie alle. Ganz verschiedene. Aber einer vereint sie. „Wir wollen in Sicherheit leben, eine Zukunft in Frieden haben“, sagt Hassimiou, einer von derzeit rund einer Million Flüchtlingen in Deutschland.
Noch ist dieser Wunsch für die meisten mit quälender Ungewissheit verbunden. Das Beispiel der Viktoria zeigt aber Chancen auf, wie im Kleinen Großes bewirkt und geleistete werden kann. Ein Verein, der so etwas wie Lebenshilfe bietet. Hassimiou, Clifford und Delolli wissen dies sehr zu schätzen, sind dankbar dafür. Sie würden sich am liebsten dafür revanchieren. Anders ist dieses Angebot von Clifford jedenfalls nicht zu deuten. Der sagte zu Rottbeck: „Wenn Sie mal in mein Heimatland kommen sollten, werde ich Leibwächter engagieren, die auf Sie aufpassen und werde Ihnen Nigeria zeigen.“
Quelle: BZ